Fachbereich Rechtswissenschaften

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Materialistischer Fehlschluss

Mit dem materialistischen Fehlschluss kann man eine von Immanuel Kant (1724 – 1804) formulierte Erkenntnis bezeichnen, welche die Grundlage des Naturrechts in der Rechtswissenschaft in Frage stellte und die Epoche des Naturrechts beendete. Das Naturrecht beruht auf der These, dass etwas Recht oder Unrecht ist, weil es der Natur des Menschen bzw. der natürlichen Vernunft entspricht. Kant hielt dies für einen materialistischen Fehlschluss, also einen – unzulässigen – Schluss von Beobachtungen und Erfahrung auf das Sollen (hier: Was ist Recht?). Er war der Auffassung, dass nicht mit den Mitteln der Vernunft aus dem positiven Recht auf das Recht a priori (Vernunft- oder Naturrecht) geschlossen werden kann. Urteile a priori werden nicht auf Basis von Erfahrung gefällt und deren Wahrheit beruht nicht auf der Zerlegung von Begriffen. Im Gegenteil sind Urteile a posteriori Aussagen, deren Wahrheit oder Falschheit sich hinsichtlich der Wahrnehmung erst hinterher erweisen lässt.

Kant teilte seine Rechtslehre (ius) in die positive und die natürliche Rechtslehre ein. Die positive Rechtslehre fragt, was rechtens sei (quid sit iuris), die natürliche Rechtslehre, was Recht sei. Aufgrund des Induktionsproblems, welches in der Frage besteht, ob und warum logisch induktive Schlüsse verlässlich bzw. rational sein können, lässt sich aus dem positiven Recht keine Antwort auf die Frage „Was ist Recht?“ erlangen, da keine Allgemeinheit der Aussage erreichbar ist. Kant räumt allerdings ein, dass das positive Recht gewisse Anhaltspunkte für die gesuchte vernunftrechtliche Grundlage bietet.

Kant nutzt zur Erklärung seiner Grundsätze analytische Urteile, sogenannte „Erläuterungsurteile“. Kants Beispiel „Alle Körper sind ausgedehnt“ sagt nur etwas über Körper aus, was im mathematischen Begriff Körper schon enthalten ist. Daher kann laut Kant mit analytischen Urteilen kein Ergebnisgewinn stattfinden. Synthetische Urteile hingegen sind „Erweiterungsurteile“. Sie verknüpfen etwas, was nicht von vornherein in dem Begriff enthalten war. In dem Beispiel "Alle Körper sind schwer" wird eine weitere gewinnbringende Erkenntnis dargestellt, die darauf schließen lässt, dass sie wahr ist.

 

Take aways:

  • Ein „materialistischer Fehlschluss“ ist ein – unzulässiger – Schluss von Beobachtungen und Erfahrung auf das Sollen (hier: Was ist Recht?).
  • Kant unterscheidet einerseits zwischen analytischen und synthetischen Urteilen und andererseits zwischen Urteilen a priori und Urteilen a posteriori.
  • Synthetische Urteile a priori sind schwierig, da Erkenntnisse qua definitionem nicht a priori sein können; daher ist auch eine Existenz des Naturrechts ohne historische Grundlagen fraglich.
  • Kant setzt den Schlusspunkt in der Epoche des reinen Naturrechts.

 

Autor*innen

Wiebke Knudsen, Oliwia Kiriakidis, Sören Bethke, Xaver Gartmeier, Nina Dengler, Emma Tiemann


Quellen

Baumgartner, Hans Michael. Kants "Kritik der reinen Vernunft": Anleitung zur Lektüre. Vol. 6. Alber, 1985.

Mahlmann, Matthias. Rechtstheorie Online. www.rwi.uzh.ch, aufgerufen am 14.12.22.

Mohr, Georg; Willaschek, Marcus. Einleitung: Kants Kritik der reinen Vernunft. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hrsg. von Mohr, G. und Willaschek, M, 1998, S. 5-36.

Rühl, Ulli (2010). "Kants Rechtslehre: Rechtsbegriff, Rechtsethik und striktes Recht". In Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz. Leiden, Brill 1985.

 

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